"Das Praktische an der Wahrheit ist: Jeder hat eine."
In diesem auf den ersten Blick flapsigen Postkartenspruch steckt eine ganze Menge Lebensweisheit. Das weiß etwa, wer jemals rückblickend auf eine zerbrochene Beziehung sah und seine Sichtweise mit der des Ex-Partners / der Ex-Partnerin verglich.
Was aber, wenn dieser Abgleich von Erinnerung nie stattfand? Eine junge Filmemacherin wollte genau das wissen, und zwar zunächst aus persönlicher Betroffenheit. Denn ihre Eltern trennten sich bereits vor ihrer Geburt. Die Tochter erlebte diese Beziehung nie als harmonisch oder wenigstens konstruktiv, sondern immer in Form einer Auseinandersetzung, in der der eine über den anderen in dessen Abwesenheit sprach und urteilte.
Deshalb beschloss die Absolventin der Filmuniversität Babelsberg, ihre Eltern zu einem Dialog über ihre Beziehung zu überreden, bei dem die räumliche Distanz gewahrt bleibt. Praktisch sieht das so aus, dass sie ihre Eltern getrennt voneinander befragt und erzählen lässt. Die Ergebnisse spielt sie der Mutter und dem Vater auf dem Laptop vor - und filmt nun die Reaktionen auf das Gesagte des jeweils anderen. Der daraus entstandene 90-Minuten-Film (Carlotta Kittel: Er Sie Ich) wurde, in Anwesenheit der Regisseurin, im hiesigen Programmkino gezeigt und während ich ihn ansah, kamen mir immer mal wieder die Fragen des Eingangsposts dieses Threads hier in den Kopf - deshalb berichte ich hier davon.
Der Zeitpunkt der ersten Interviews lag viereinhalb Jahre zurück, als die zweite Runde gefilmt wurde. Schonungslos sind sowohl Fragen wie auch Antworten in diesem Film. "Wart Ihr jemals ein Paar?" will die Autorin gleich am Anfang von ihrem Vater wissen. Und schon sein sekundenkurzes Zögern nimmt die Antwort fast vorweg: "Ein richtiges Paar waren wir nie!" sagt er. Die Mutter beantwortet dieselbe Frage ganz anders - und so entwickelt sich ein Bild von der Beziehung zweier Menschen, die sogar uneins darüber sind, ob der andere je geliebt hat - und für wie lange. Vorstellungen und Urteile der beiden Elternteile übereinander setzen sich beim Zuschauer zu einem Bild zusammen, man ist sogleich emotional beteiligt, schlägt sich innerlich mal auf die eine, mal auf die andere "Seite". Insgesamt empfinde ich es als eine originelle, spannende und mutige Auseinandersetzung nicht nur mit den eigenen Eltern, sondern mit den Themen Wahrnehmung, Sprache und Erinnerung im Miteinander. Wie nahe muss diese Arbeit Carlotta Kittel und ihren Eltern gegangen sein!
Was trägt das zu unserem Thema hier bei? Nun, zum einen wird deutlich, dass es "die eine und einzige Wahrheit" nicht gibt, genau so wenig wie eine Messlatte dafür, ob eine beliebige Behauptung oder Aussage "wahrer" ist als eine andere. Meiner Auffassung nach ist Wahrheit grundsätzlich kontext-, situations- und personenabhängig und hat darüber hinaus immer auch etwas mit der eigenen, subjektiven Wahrnehmung des sich Äußernden zu tun.
Vor Gericht sind alle Befragten aufgefordert und verpflichtet, "die Wahrheit" zu sagen, die aber letztlich nichts anderes ist als eine Darstellung dessen, was man selbst wahrgenommen und getan oder nicht getan zu haben überzeugt ist.
"Wahr sein" und "etwas für wahr halten" ist jedoch keinesfalls immer identisch.
mwalimu hat weiter oben bereits vorgeschlagen, das Thema eher aus dem Blickwinkel "Sagen was man denkt?" anzugehen, sowie den Aspekt der je individuellen Zumutbarkeit und Vermeidung von Verletzung des Anderen eingeführt - eine Sichtweise, der ich ebenfalls zuneige. Das erfordert eine Orientierung an eigenen ethischen Maßstäben und gegebenenfalls die Bereitschaft zur Übernahme der Verantwortung für Folgehandlungen, die ich auslösen kann, wenn ich jemanden z.B. mit einer Wahrheit konfrontiere, die ihm unangenehm ist bzw. ihn verletzt.
Erzähle ich der Kollegin, die mir von ihrer wunderbaren Ehe vorschwärmt, dass ihr Mann seit zwei Jahren ein außereheliches Verhältnis hat, von dem "alle" zu wissen scheinen außer ihr? "Um der Wahrheit willen"?
Und lautet die Antwort anders, wenn es nicht irgendeine Kollegin ist, sondern die beste Freundin?
Erzähle ich dem Fünfjährigen, der nicht versteht, weshalb ein Elternteil ausgezogen ist und nicht mehr zu Hause wohnt, "um der Wahrheit willen" die ganzen schmutzigen Details des vorangegangenen Beziehungskrieges, die dazu geführt haben?
Ist es, "um der Wahrheit willen", der richtige Zeitpunkt, der auf dem Totenbett liegenden Mutter mitzuteilen, dass man als junge Frau von ihrem Lebensgefährten missbraucht wurde?
Es gibt Menschen, die für sich entschieden haben, im Falle der Diagnose einer schweren, zum Tode führenden Erkrankung vorzeitig aus dem Leben zu scheiden, und dies auch bereits zu gesunden Zeiten mitgeteilt und schriftlich niedergelegt haben. Habe ich das Recht, als eng(st)e Angehörige ihm die Diagnose vor zu enthalten bzw. eigenmächtig "abzuschwächen", um den Suizid zu verhindern?
Die Gesetze unseres Landes legen fest, dass weibliche Bewerberinnen bei Bewerbungsgesprächen das Recht haben, dem potenziellen Arbeitgeber eine bereits zu diesem Zeitpunkt bekannte Schwangerschaft zu verheimlichen. Wie ist das zu beurteilen? Bin ich moralisch nicht verpflichtet, die Wahrheit zu sagen? Als Ehepartner eines vor Gericht Angeklagten darf ich mich der Aussage enthalten, wenn sie den anderen belastet. Auch hier wird also eine Ausnahme von der üblichen Regel wahrheitsgemäßer Aussagen akzeptiert.
Für mich ist der Umgang mit der "Wahrheit" eine Frage der inneren Haltung eines Menschen, die nicht ein und für alle mal klärbar ist, sondern in jeder einzelnen Situation neu zu entscheiden ist. Persönlich wünsche ich mir ein größtmögliches Maß an Selbstbestimmtheit für meinen bewussten Lebensvollzug. Ich möchte z.B. wissen, wenn ich von einer tödlichen Krankheit befallen werde, um letzte Dinge ordnen und mich verabschieden zu können. Und ich versuche, mein Leben so zu gestalten, dass ich weiterhin, so wie bisher, auch unangenehmen Wahrheiten über mich selbst gewachsen bin.